Anfang Februar 2017, nicht mehr ganz im tiefsten isländischen Winter, aber in einer guten Zeit, um Polarlichter zu sehen, mache ich mich, gemeinsam mit meinem Freund Taro, auf den Weg in den hohen Norden. Im zurückliegenden Sommer haben wir das Hochland und den Osten der Insel erkundet und bereits am Tag der Rückreise unseren Frauen verkündet, dass wir im Winter wieder losziehen werden. Solche Touren müssen rechtzeitig vorbereitet werden.
Schon beim Anflug auf Keflavik wird klar, dass wir Klischees abschreiben können. Alles grau in grau. Wie zu Hause, nur wärmer. Unser Idealbild vom winterlichen Island fließt die Fensterscheibe hinunter. „Die Tour beginnt ja richtig toll“, schießt es mir durch den Kopf. Frust will sich breit machen. Die Vorstellung von Island im Winter, geprägt durch Reiseführer und Bildbände, passt nicht in die Gegenwart. Selbst der eisige Wind, der uns auf dem Weg zum Busbahnhof wie ein alter Bekannter begrüßt, kann die Enttäuschung nicht wegwehen.
Erst als wir beim Autoverleiher ankommen, wendet sich das Blatt. Wie kleine Jungs mit glänzenden Augen stehen wir vor einem umgebauten Campervan. Dessen hochgebocktes Chassis und die grobstolligen Reifen auf großen schwarzen Felgen machen Eindruck und bringen das Lachen in unsere Gesichter zurück. Der Innenraum bietet viel Platz. Wir haben eine große Sitzecke samt Tisch, Stauräume, eine elektrisch betriebene Kühlbox, einen 15 Liter fassenden Wassertank und eine kraftstoffbetriebene Standheizung. Für die Nacht müssen wir nur die Tischplatte demontieren und die Rückenlehnen der Sitzbänke auf ein vorbereitetes Gestänge legen. Wir sind überzeugt, dass wir mit dem Wagen bestens gerüstet sind. Eben noch frustriert, jetzt voller Tatendrang. Island, wir kommen. Mit diesem Gefährt kommen wir überall durch. Da meldet sich die innere Stimme: „Klar, bei Regen müsst ihr den Schnee nicht fürchten…“.
Unser erstes Ziel sind die Westfjorde und der hohe Norden. Dort soll der Blick auf die Polarlichter besonders gut sein. Anschließend wollen wir wieder in den Süden und Südosten, bis zur Gletscherlagune Jökulsárlón. Knapp 2000 km in elf Tagen.
Bevor es losgeht, müssen die Vorräte aufgefüllt werden. Beim „Bonus“, einem der großen isländischen Discounter, decken wir uns mit Reis und Nudeln, Eiern und Speck, Fisch und Fleisch, Wasser, Käse, Wurst und Brot ein. Dazu noch ein wenig mit Vitamin D angereicherte Milch, Gemüse, Chips und leichtes Bier. Knapp 14.000 Kronen (ca. 120 EUR) werden für den Einkauf fällig. Island ist nicht gerade günstig. Aber nun sind wir hier und wir müssen ja mal was essen, was trinken. Wir schalten den Sinn für Preise aus und ziehen die Kreditkarte durch. Gekauft wird was gebraucht wird, getankt wird immer voll.
Entsprechend ausgestattet, beginnt eine Tour, die im Sommer noch undenkbar schien und von der uns abgeraten wurde. Es sei, so der Autoverleiher noch im Sommer, nahezu unmöglich im Winter in die Westfjorde zu fahren. Schnee und Eis würden einen Strich durch unseren Plan machen. Dass er damit unseren Wunsch nach Abenteuer und großen Autos nachhaltig weckte, war ihm sicher bewusst.
Nun sind wir hier und werden Zeugen eines äußerst milden Winters. Viele, mit denen wir sprechen, sind der Meinung, dass es seit zehn Jahren nicht mehr so warm gewesen sei wie in diesem Jahr. Unsere klischeebehafteten Vorstellungen geben wir auf.
Der erste Standort wird sogleich zur Probe für unsere Daimler-Bus. Wir sind in Sachen Wintercamping Novizen und von der Anreise schlicht müde. Also stellen wir den Wagen kurzerhand auf den zugewiesenen Platz, kochen eine erste Portion Spaghetti, genießen ein Feierabendbier und richten das Nachtlager ein. Dass der Wind aufdreht, stand nicht auf dem Plan. Und dass es durch jede erdenkliche Ritze pfeift, auch nicht. Die Überraschung liefert der Morgen. Sind wir nicht am Abend zuvor noch auf einem verschneiten und eisigen Feldweg zum Campingplatz gerutscht? Jetzt fehlt von Schnee und Eis jede Spur. Alles weg. Auch wird klar, warum es so kalt war. Wir stehen mitten auf dem Platz, dem Wind entsprechend ausgesetzt.
In den kommenden Nächten parken wir mit der Frontseite gegen den Wind und lassen die Standheizung permanent laufen, auch wenn das Rauschen des Ventilators und das Klackern der Kraftstoffzufuhr gewöhnungsbedürftig ist. Schwieriger wird es da mit dem allabendlichen Schnarchkonzert. Bessere Karten auf guten Schlaf hat, wer eher einschläft und sich damit, zumindest im ersten Moment, die lautmalerischen Kompositionen des anderen erspart.
Die Tagesetappen beginnen mit einem angemessenen Frühstück. Es gibt Rührei mit Speck, dicke Stullen mit Wurst und Käse, dazu Instant-Kaffee. Die Fahrtrichtung in den ersten Tagen ist immer Norden. Wo wir am Abend sein werden, wissen wir nie im Voraus. Einig sind wir uns aber, dass die tägliche Strecke durch eine Vielzahl von Unterbrechungen gekennzeichnet sein wird. Es gibt viel zu sehen und die Kameras sind griffbereit.
Je weiter wir uns in den Norden vorarbeiten, desto geringer wird die Zahl der möglichen Übernachtungsplätze. Wir fokussieren uns auf die örtlichen Schwimmbäder oder Hotpots (Thermalbäder). Gegen ein geringes Entgelt, 450 bis 600 Kronen pro Person (ca. vier bis fünf Euro), ist die Nutzung der sanitären Anlagen und Duschen möglich. Abenteuer ja, aber dann doch bitte mit ein wenig Basiskomfort.
Rechnerisch müssten wir 200 km am Tag zurücklegen, um im Plan zu bleiben. Doch es scheint, als sei das Wort Abwechslung auf Island erfunden worden. Der diesjährige Winter steht für Brauntöne. Diese machen, gepaart mit einem breiten Spektrum an Blau und dem wenigen Schnee, der fast wie Puderzucker wirkt, die in ihren Formen reduzierte Landschaft zum Besonderen. Wir finden permanent Neues und kommen nur im Schneckentempo voran.
Wir reisen weiter nordwärts. Die lockeren Schneeflächen wachsen mehr und mehr zusammen, die Straße verdichtet sich zur Piste. Endlich kommen wir unseren Vorstellungen näher, bis wir unerwartet vor einer Schranke stehen. Ein Schild mahnt, dass die Weiterfahrt nur dann möglich sei, wenn wir im Falle des Falles sämtliche Rettungskosten selbst tragen würden. Hier beginnt das Abenteuerland für Singles. Die Vernunft blitzt auf und Familienväter knicken ein. Bei allem Interesse an der Landschaft hinter der Schranke: Das Risiko ist uns zu hoch. Es geht links und rechts der Straße steil bergab, wir sind trotz Winterreifen schon mehrfach gerutscht und wir wissen, dass man für diese Art von Strecken richtige Ballonreifen braucht. Der Erfahrungshorizont fehlt, der Camper wird dann doch an seine Grenzen kommen und unsere goldige Rettungsdecke keine große Hilfe sein.
Wer Plan A hat, zieht bei Bedarf Plan B aus der Tasche. Über die Website der isländischen Straßenwacht www.road.is suchen wir einen neuen Weg in Richtung Norden. Bis auf zwei Straßen ist alles gesperrt oder nur mit schwerem Gerät befahrbar. Um den Bypass zu erreichen, müssen wir weit zurück. Die Rückfahrt, zunächst als notwendiges Übel gesehen, wird zur neuerlichen Entdeckungsreise. Die abendliche Auswertung der Bilder zeigt, dass sich der Perspektivwechsel gelohnt hat.
Mittlerweile sind wir so hoch im Norden des Landes, dass wir gleich an zwei Abenden Zeugen eines gigantischen Schauspiels werden. Was sich mit einem gräulichen Schimmer am nachtblauen Himmel ankündigt, wächst direkt über uns zu einem zart tanzenden grünen Schleier, der sich von einer Sekunde zur nächsten beständig und schnell verändert, so dass wir mit dem Fotografieren und Staunen nicht mehr hinterherkommen. Wir sehen und erleben Polarlichter.
Die Tage Anfang Februar sind noch kurz. Wenn sich die Sonne zeigt, dann zwischen 9 und 17 Uhr. Lang sind die Abende dennoch nicht. Wir gönnen uns nahezu allabendlich ein umfangreiches Menü, und das will vorbereitet sein. Die Aufteilung ist nach Talent: Taro bereitet zu, ich mache den Abwasch. Nach 30 Jahren Freundschaft ist die Rollenverteilung auf unseren Touren klar geregelt. An Gesprächsthemen mangelt es nicht. Vieles kommt auf den Tisch – alles bleibt im Wagen.
Wir schlagen den Rückweg nach Süden ein. Zunächst Richtung Reykjavik, dann entlang der Südküste zur Gletscherlagune Jökulsárlón. Wir wissen, dass sich dort ein großartiger Blick auf den Vatnajökull, dem größten Gletscher Islands, eröffnet. Unsere Bildidee: Polarlichter, direkt über dem Gletscher, davor die Gletscherlagune. Das sind uns 340 km Tagesstrecke wert. Kaum angekommen, bringen uns auf einem Parkplatz in Stellung. Die Wolken verziehen sich, es wird sternenklar. Ideale Voraussetzungen, bis im entscheidenden Moment neue Wolkenbänke aufziehen und die Sicht verhindern. Der Höhepunkt des Abends fällt aus. Die Enttäuschung hält sich in Grenzen, haben wir „unsere“ Polarlichter doch schon im Kasten.
Nach elf Tagen stehen 2300 km auf dem Tacho und wir sind im äußersten Südwesten der Halbinsel Rekyjanes angelangt. Der Atlantik kracht gegen die Felsen, es ist kaum möglich, im Wind stehen zu bleiben. Wieder erleben wir die Insel von einer ganz anderen Seite.
Zufrieden fahren wir zum letzten Höhepunkt der Tour, dem Besuch der Blauen Lagune. Mit grüner Paste im Gesicht schwimmen wir durch milchiges Wasser und entdecken eine beleuchtete Weltkarte. „Wenn wir morgen zu Hause ankommen, dann müssen wir eine Antwort auf die Frage nach dem nächsten Reiseziel haben“, sage ich und schaue Taro fragend an. „Namibia“, sagt er, „da soll es warm sein“. „Gebongt.“